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Henriette Quade zu TOP 24: Solidarität in Europa - Faire Chancen für Asylsuchende im „Dublin-Verfahren“ sichern

In den letzten Wochen hatte ich die Gelegenheit, die in Magdeburg lebende Familie Haji kennenzulernen. Sie lebte in der Gemeinschaftsunterkunft in der Grusonstraße in Magdeburg. Sie war seit Langem auf der Suche nach Hilfe. Frau Haji, die Mutter der Familie, ist psychisch krank. Es sind verschiedene psychische Belastungen diagnostiziert worden, es ist dringender psychotherapeutischer Behandlungsbedarf festgestellt worden. Familie Haji hatte das Glück, hier Freunde und Unterstützerinnen zu finden, die ihnen bei den unzähligen Gängen zu Behörden, Ämtern und Ärzten halfen, und die versuchten, Behandlungsmöglichkeiten, Therapieplätze und Beratung zu finden, und die versuchten, die Öffentlichkeit auf diesen Fall aufmerksam zu machen. Familie Haji ist vor dem Bürgerkrieg in Libyen geflohen. Sie hat es geschafft, Europa über Italien zu erreichen, ein Versuch, bei dem tausende Menschen ihr Leben verlieren. Sie ist dann weiter nach Deutschland gereist und Anfang 2013 nach Magdeburg gekommen.

Da die Familie die EU über Italien betreten hat, ist gemäß der Dublin-Verordnung Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Wenn kein triftiger Grund entgegensteht, sieht die Dublin-Verordnung eine Rücküberstellung nach Italien vor. Die Odyssee der Familie Haji war lang. Immer wieder gab es Hoffnungsschimmer. Immer wieder wurden diese Hoffnungen durch das Handeln der Behörden hier in Magdeburg zerschlagen. Die Familie fand einen Arzt, der einen Therapieplatz zur Verfügung gestellt hätte. Die Behörden fanden, eine medikamentöse Behandlung reiche aus. Sie haben sich an den Innenminister und an den Ministerpräsidenten gewandt - diese fühlten sich nicht zuständig. Trotz des diagnostizierten Behandlungsbedarfs der Mutter wurde entschieden, dass sie reisefähig sei. Sie brauche lediglich Medikamente zu nehmen und solle von einem Sanitäter begleitet werden.

Die Familie fand große Unterstützung bei einer Petition - der Innenminister hatte jedoch keine Zeit, diese entgegenzunehmen. Den ersatzweise vereinbarten Termin mit einer Mitarbeiterin des Innenministeriums zur Petitionsübergabe konnte die Familie nicht mehr wahrnehmen, denn die Familie Haji wurde vorgestern in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf gerissen und abgeschoben, ohne Geld, ohne Papiere und ohne geklärte Unterkunft. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde die Familie zum Flughafen gebracht und nach Rom überstellt. Als Freunde eintrafen, wurden die Betten, in denen bis eben noch die Kinder der Familie schliefen, bereits neu bezogen.

Es ist selten, dass wir etwas über das Schicksal von Menschen erfahren, die abgeschoben oder rücküberstellt werden. In diesem Fall ist es dank der Unterstützerinnen und des mittlerweile durchaus erheblichen medialen Interesses anders.

Inzwischen ist klar: Familie Haji fand eben keine Unterkunft. Die Flüchtlingscamps in Rom sind voll. Ihnen wurde gesagt, sie sollten selbst zusehen, wie sie weiterkämen. Die Familie wurde auf einem Bahnhof in Rom regelrecht ausgesetzt. Die Behörden der Stadt Magdeburg ließen mitteilen: Für uns ist der Fall abgeschlossen. Genau dieses Ziel, den Fall abzuschließen, scheint über allem zu stehen. Genau dieses Ziel, den Fall abzuschließen, scheint aus der Verwaltungslogik heraus nicht weiter aufregend zu sein. Mit Blick darauf, dass es hierbei um das Schicksal von Menschen geht, ist die Unbedingtheit, mit der dieses Ziel offenbar von allen beteiligten Stellen verfolgt wurde, einfach beschämend.

Familie Haji ist eben kein Einzelfall und nicht Opfer einer Lücke in der Gesetzgebung. Im Gegenteil: Der Fall offenbart nahezu alle Facetten des Dublin-Systems. Ja, man kann sagen: Der Fall der Familie Haji ist genau das Dublin-System. Für Flüchtlinge gibt es nahezu keinen legalen Landweg in die Bundesrepublik. Dadurch kommt es zu einer enorm ungleichen Verteilung der Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten. Staaten wie Griechenland oder Italien tragen ungeachtet ihrer wirtschaftlichen Situation derzeit die Hauptverantwortung dafür in Europa. Sie tragen sie im Übrigen nicht nur für die Durchführung der Asylverfahren, sondern auch für die Hunderttausenden irregulären Migrantinnen und Migranten, die eben keinen Asylantrag stellen, sei es, weil sie wegen eventueller Arbeitsmöglichkeiten in ein anderes EU-Land weiterreisen wollen, sei es wegen familiärer Bindungen, sei es aus Angst vor Inhaftierung unter unwürdigen Bedingungen oder aus Angst vor einem unfairen Asylverfahren.

Schwere und systemische Mängel innerhalb der Asylverfahren und bei der Unterbringung Asylsuchender sind für Italien und Griechenland mehrfach festgestellt worden und sind Gegenstand richterlicher Entscheidungen auch in Sachsen-Anhalt.

Nun kann man sagen: Das mag schon sein und es ist auch traurig, aber wir haben es nun einmal nicht in der Hand; denn es ist eine Angelegenheit des Bundes. Die Gesetze sind nun einmal, wie sie sind. Dazu ist zunächst festzustellen: Die Zahl der sogenannten Dublin-Fälle nimmt auch in Sachsen-Anhalt seit geraumer Zeit zu. Schon deshalb liegt es für meine Fraktion auf der Hand, sich auch hier im Land mit dieser bundesgesetzlichen Regelung stärker auseinanderzusetzen. Viel wichtiger aber ist es mir, dass wir endlich aufhören, so zu tun, als hätten wir mit dieser Gesetzeslage nichts zu tun.

Gesetze fallen doch nicht vom Himmel, sie sind Ausdruck und Instrument des politischen Willens parlamentarischer Mehrheiten. Hören Sie also endlich auf, so zu tun, als wäre das nicht der politische Wille der parlamentarischen Mehrheit  hier im Land. Hören Sie auf mit der Hin-und-Her-Schieberei von Verantwortung, die in mehrfacher Hinsicht kennzeichnend für das Dublin-System ist. Lassen Sie uns gemeinsam als Landtag ein politisches Signal für eine gerechtere Teilung der Verantwortung innerhalb des EU-Asylsystems und für faire Chancen für Asylsuchende in Europa setzen.

Meine Fraktion macht mit ihrem Antrag sehr konkrete Vorschläge dafür, die auf verschiedene politische Ebenen abzielen. Meine Fraktion plädiert ganz klar für eine Überwindung des Dublin-Systems und des ihm zugrunde liegenden Prinzips der Drittstaatenregelung. Wie auch zahlreiche andere Verbände fordern wir das Prinzip der freien Wahl des Aufnahmelandes. Mögliche sich daraus ergebende Ungleichgewichte können durch finanzielle Reglungen ausgeglichen werden. Vorschläge dazu, wie das konkret gestaltet werden könnte, gibt es zuhauf; sie liegen seit Jahren auf dem Tisch.

Angesichts der politischen Disposition der Mehrheit dieses Hauses haben wir unter Punkt 1 unseres Antrages lediglich die grundsätzliche Zielstellung einer solidarischen und gerechten Teilung von Verantwortung für Flüchtlinge und Asylsuchende formuliert. Ja, wir finden, die Landesregierung könnte und müsste hier aktiv werden. Eine entsprechende Bundesratsinitiative ist wohl eine naheliegende Idee; das Signal aus den Ländern ist dringend notwendig.

Der Gedanke des möglichst schnellen Fallabschlusses, verbunden mit der Leugnung von Verantwortung, ist nicht nur kennzeichnend und quasi Leitmotiv für die Dublin-Fälle, sondern auch für unseren Umgang mit Menschen, die aus einem als sicher geltenden Herkunftsland hierher kommen. Die Bundesregierung wie auch ihre Vorgängerregierungen sind bestrebt, die Liste dieser sogenannten sicheren Herkunftsländer auszuweiten. So ist mit einem aktuellen Gesetzentwurf beabsichtigt, die Länder Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als solche zu definieren. Das ist ein Skandal. Denn die meisten Schutzsuchenden aus diesen Ländern sind Angehörige der Minderheit der Roma. Systematische Diskriminierung, gesellschaftliche Ausgrenzung, materielle Armut, massive Benachteiligung in Fragen des Bildungserwerbs und der Arbeitsmöglichkeiten, teilweise katastrophale Wohnbedingungen - all das prägt das Leben von Roma in diesen Ländern und lässt ein Leben in Sicherheit und Würde für viele von ihnen nicht zu.

Mit der vorgesehenen Einstufung als sichere Herkunftsländer wird ein Leben in der Bundesrepublik für diese Menschen unmöglich gemacht. Roma werden damit diesen mehr als unsicheren Lebensbedingungen ausgeliefert, und zwar im vollen Wissen um diese Umstände. Wir finden, das ist nicht hinnehmbar.

Der Fall der Familie Haji macht nicht nur die Funktionslogik des Dublin-Systems deutlich. Er zeigt auch, an welchen Stellen die Behörden, und zwar auch und gerade die des Landes, hätten agieren können, hätten eingreifen können, und an welchen Stellen trotz stringenter Vorgaben des Bundes das aktive Handeln des Landes nicht nur möglich, sondern auch nötig gewesen wäre.

Jeder Einzelfall ist zu prüfen, auch und gerade in Dublin-Fällen. Denn die formale Nicht-Zuständigkeit entbindet nicht von der Verantwortung für den Schutz von Menschen und für die Sicherstellung eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens.

Eben um dieser Verantwortung gerecht zu werden, haben die Länder, aber auch die Ausländerbehörden selbst verschiedene Instrumente an der Hand, die in Würdigung der persönlichen Situation jedes Einzelnen den Aufenthalt hier ermöglichen könnten. Es stimmt eben nicht, dass niemand etwas gegen diese Abschiebung hätte unternehmen können. Eine gründliche Einzelfallprüfung durch die Ausländerbehörden hätte vorgenommen werden können. Man hätte höhere Landesinteressen gegenüber dem Bundesinteresse - das wäre in diesem Fall die Durchsetzung der Dublin-Verordnung gewesen - geltend machen können, beispielsweise Familienschutz, ein Bleiberecht aus humanitären Gründen und aufgrund der Behandlungsnotwendigkeit der Mutter.

Aus Aachen kann ich ein Beispiel nennen, bei dem eine Ausländerbehörde selbst infolge einer gründlichen Einzelfallprüfung die Mitwirkung an einer bereits verfügten Abschiebung - ebenfalls ein Dublin-Fall, ebenfalls Italien - verweigert hat und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge um Gebrauch des Selbsteintrittsrecht gebeten hat. All das ist möglich. Es mag nicht im politischen Sinne der Asylgesetze sein, aber es ist möglich und im Interesse der von ihnen betroffenen Menschen ist  es auch nötig.

Im Fall der Familie Haji, aber auch in vielen anderen Fällen - am Dienstag der nächsten Woche soll eine schwangere Frau aus Bitterfeld abgeschoben werden -wurde von keiner dieser Möglichkeiten Gebrauch gemacht, und genau darauf zielt der dritte Punkt unseres Antrags.

So wie Familie Haji versuchen viele andere sogenannte Dublin-Fälle die Härtefallkommission des Landes anzurufen. Familie Haji scheiterte, weil sich die Härtefallkommission darauf verständigt hat, keine Dublin-Fälle anzunehmen, eben weil es keine verbindliche Rechtsgrundlage für einen Aufenthalt hier gibt. Ob sie Fälle annimmt und welche sie nicht annimmt, das ist eine Entscheidung, die die Härtefallkommission trifft, und es ist gut, dass sie sie trifft. Klar ist aber auch: Ob ein Fall ein Härtefall ist, hängt nicht von seinem aufenthaltsrechtlichen Status ab, sondern von der persönlichen Situation. Daher finden wir, es sollte von der heutigen Befassung des Landtags mit dem Thema auch der Wunsch ausgehen, dass Dublin-Fälle künftig auch in der Härtefallkommission beraten werden können.

In der letzten Sitzungsperiode beschäftigten wir uns mit dem Antrag meiner Fraktion zur Abschaffung der Abschiebungshaft. Für Dublin-Fälle macht die Dublin-III-Verordnung spezifische Vorgaben. Für die Inhaftierung zum Zweck der Überstellung in das für das Asylverfahren zuständige Land muss eine eigene Rechtsgrundlage geschaffen werden. Konkret muss gesetzlich definiert werden, wann von einer Fluchtgefahr auszugehen ist. In Deutschland fehlt diese Rechtsgrundlage. Asylsuchende werden dennoch zur Durchführung ihrer Überstellung in Abschiebungshaft genommen. Dass die Bundesregierung es versäumt, die Anforderungen an die Inhaftierung im Dublin-Verfahren in deutsches Recht umzusetzen, darf nicht zulasten der Freiheitsrechte der Schutzsuchenden gehen.

Ein Punkt, der im Fall der Familie Haji für besondere Empörung gesorgt hat, ist die Tatsache, dass die Abschiebung terminlich nicht angekündigt wurde. Auch die Integrationsbeauftragte des Landes hat dies öffentlich kritisiert und als Verstoß gegen die Empfehlungen des Innenministeriums gewertet. In der Tat ist die Ausländerbehörde der Stadt Magdeburg dazu übergegangen, erklärtermaßen auf die Mitteilung des Abschiebetermins zu verzichten. Das führt zu Nacht-und-Nebel-Aktionen. Das kann zur Verhinderung der freiwilligen Ausreise führen. Das kann dazu führen, dass Eilrechtsanträge nicht mehr gestellt werden können. Kurz: Es liefert Menschen aus und öffnet der Willkür Tür und Tor.

Die Problematik beschäftigte uns bereits in der letzten Sitzung des Innenausschusses. Wir erlebten dort die offenbar symptomatische Argumentation: Es ergibt sich nicht unmittelbar aus den Gesetzen, dass eine Ankündigung terminiert zu erfolgen hat, deswegen ist die Praxis unproblematisch. Ich freue mich ausdrücklich, dass es den Äußerungen der Kollegen von der SPD zufolge jetzt auch dort Kritik an dieser Verfahrensweise gibt. Für die kommende Sitzung des Innenausschusses ist ebenfalls eine Beschäftigung mit dem Fall der Familie Haji angekündigt. Ich hoffe, dass wir auch dieses Thema dort noch einmal aufrufen können.

Unser Antrag zeigt verschiedene Ansatzpunkte auf, die die politische Entscheidung für eine Verbesserung der Lebensbedingungen für Menschen im Dublin-Verfahren konkret wirksam werden lassen könnten. Das zeigt auch: Es fehlt nicht an Möglichkeiten, es fehlt nicht an Stellschrauben - es fehlt am politischen Willen. Wir haben heute gemeinsam die Chance, ein notwendiges politisches Signal zu setzen. Lassen Sie uns diese Chance nutzen!

Herr Minister Stahlknecht, Familie Haji wollte Ihnen heute Morgen, vor Beginn der Landtagssitzung, ihre Petition übergeben und Sie erneut um Hilfe bitten. Ich lasse Ihnen diese Petition hier vorn am Pult liegen, Sie reden ja nach mir. Familie Haji hat keine Gelegenheit mehr dazu, dies zu übergeben. Sie haben so noch die Gelegenheit, diese Petition entgegenzunehmen. Ich appelliere aber auch an Sie: Das, was wir zum jetzigen Zeitpunkt wissen, macht klar: Es wurde ganz klar gegen Bedingungen für die Rücküberstellung verstoßen. Die Familie hat weder Unterkunft noch den Therapieplatz, der in der Reisefähigkeitsbescheinigung für die Mutter vorgesehen war. Ich appelliere deshalb an Sie, Herr Minister: Tun Sie alles, um diese Verstöße zu heilen, tun Sie alles, um diese Familie zurück nach Sachsen-Anhalt zu holen.