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Henriette Quade zu TOP 19: Dublin-Übereinkommen überwinden

Die europäische Asyl und Flüchtlingspolitik war schon mehrfach Thema hier im Hohen Hause, die Fraktionen haben dazu, wie es ihre Aufgabe ist, unterschiedliche Auffassungen und zum Teil sehr gegensätzliche Konzepte. Das bleibt unbenommen, da streiten wir uns weiter und daran wollen wir auch mit unserem heute vorliegenden Antrag nichts ändern.

Was wir aber tun wollen, ist auf eine neue Entwicklung zu reagieren. Im Juni dieses Jahres begaben sich Mitglieder des Ausschusses für Inneres und Sport auf eine Delegationsreise zur Situation von Flüchtlingen nach Italien. Und in der Tat, auch wenn der Bund der Steuerzahler das anders sehen mag – diese Reise war wirklich sehr sinnvoll, war sehr aufschlussreich und – so zumindest meine Hoffnung- hilft auch dabei, die Dinge die hier in Sachsen-Anhalt auf der Tagesordnung stehen und die Herausforderungen mit denen wir zu kämpfen haben in einen gesamteuropäischen Kontext zu setzen.

Und so viele Baustellen wir in Sachsen-Anhalt haben und der Bundesrepublik haben, so sehr wir auch um den richtigen Weg streiten – die Probleme relativieren sich dann doch, wenn man die Eindrücke aus Italien im Kopf hat. In Italien kamen im letzten Jahr etwa 170 000 Menschen per Boot an. Allein in den 3 Tagen vor unserer Ankunft in Palermo kamen über 5000 Menschen an. Padre Natoli, einer unserer Gesprächspartner ging besonders auf die Frage der Fluchtgründe und die Frage, woher die Flüchtlingen kommen, ein: Er berichtete von einem enorm steigenden  Anteil allein geflüchteter Kinder, 5000 Neuankommende waren es im letzten Jahr allein auf Sizilien. Er beschrieb einen Wandel auch in der Zusammensetzung der Gruppen der Flüchtlinge – es flüchten mehr Familien, mehr Frauen mit Kindern und es steigt der Anteil der Menschen, die vor Umweltverschmutzung, vor Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und vor den Auswirkungen des Klimawandels fliehen. Auch der Anteil der sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge steigt massiv. Allerdings – und das fand ich besonders beeindruckend – scheint dort auf die Charakterisierung als Wirtschaftsflüchtling keineswegs das Absprechen des echten Schutzbedürfnisses zu folgen. Vielmehr wird der Fokus viel stärker und viel ernsthafter auf Fluchtursachen, auf den Zusammenhang zwischen Weltpolitik und Fluchtbewegungen und die real nicht vorhanden Alternativen zur Flucht gelegt. „Sie haben in ihren Ländern keine Chance“ sagte Padre Natoli, und „wir erleben einen Weltenwandel – bisher war die Globalisierung nur ökonomisch vollzogen, jetzt erleben wir sie in einem weit umfassenderen Sinne. Was ist unser gemeinsamer Horizont? Wir alle wollen unser kurzes Leben in Frieden führen.“

Das ist nur ein Beispiel, aber ein durchaus typisches für die Perspektive, die eigentlich alle unsere Gesprächspartner einnahmen oder zumindest einbezogen. Die Herausforderungen und Probleme vor denen Italien steht sind weitaus größer als die, vor denen wir stehen, sind weitaus existentieller, aber ich habe dort niemanden erlebt, der ernsthaft anzweifelte, dass die Menschen, die als Flüchtlinge in Italien ankommen, reale und anzuerkennende Fluchtgründe haben.

Nächste Woche findet die zweite Runde des Flüchtlingsgipfels der Landesregierung statt – ich wünschte mir eine solche Empathie, einen solchen weiteren Horizont und eine solche Betrachtungsweise der Fluchtgründe für diese und andere Diskussionen bei uns in Sachsen-Anhalt. Da können wir wirklich viel lernen. Und um nicht missverstanden zu werden – es ist keineswegs alles besser in Italien. Im Gegenteil, habe ich sehr widersprüchliche Eindrücke mitgenommen: Die Defizite staatlicher Fürsorge und Daseinsvorsorge sind augenscheinlich: Nur ein kleiner Teil der ankommenden und dort lebenden Flüchtlinge findet Platz in staatlich organisierten Unterkünften. Ein weitaus größerer Teil ist ausschließlich von ehrenamtlicher, spendenbasierter und freiwilliger Hilfe abhängig – sei es wenn es darum geht, ein Dach über dem Kopf zu haben, Wäsche zu bekommen, Wäsche waschen zu können, bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln, der gesundheitlichen Versorgung, dem Zugang zu Schulbildung, Ämtergängen und so weiter. Nicht alle Menschen schaffen es überhaupt in Aufnahmestrukturen, in richtige Unterkünfte, sondern leben in entstehenden und auch wieder verschwindenden informellen Lagern. Eklatante Mängel also, akute Probleme bei der Unterbringung und Versorgung, mühsame Versuche, die großen Lücken zu füllen, die der Staat lässt also einerseits. Andererseits aber, und das scheint mir angesichts des vorgenannten besonders bemerkenswert, scheint es die Diskussion, ob Asylbewerber, deren Bleiberecht ungewiss ist, italienisch lernen dürfen oder nicht, schlichtweg nicht zu geben. Es ist das selbstverständlichste der Welt, dass wer –egal wie lange- in einem Land ist dessen Sprache er nicht spricht, die Chance braucht, das zu ändern und zwar so schnell wie möglich.

Besonders problematisch wurde uns die Situation des Ankommens geschildert: Das Ankommen sei immer der Notfall, es sei nicht organisiert und auch kaum organisierbar, weil es an Strukturen fehlt, weil nicht berechenbar ist, wie viele Menschen den Weg über das Mittelmeer schaffen, nicht klar ist, in welchem Zustand diese sein werden, weil nicht vorauszusagen ist, wie viele gerettet werden, die meisten im Übrigen von Fischern.

Zu den neuankommenden Flüchtlingen, die nach der Erstaufnahme italienweit verteilt werden, kommen die Flüchtlinge dazu, die als sogenannte Dublinfälle aus anderen europäischen Ländern nach Italien zurück überstellt werden, und erneut italienweit verteilt werden. Für die völlig überlasteten Aufnahmeeinrichtungen und Strukturen in Italien ist das eine zusätzliche enorme Belastung.

Das ist nicht neu, das ist vielfach beklagt und das stellt Fragen nach der Praxis bei uns, also am anderen Ende der Dublinbürokratie. 18% aller Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 2014 waren Dublinentscheidungen. Das sind ca. 23000 Fälle. Deutschland hat 2014 ca. 35000 Übernahmeersuchen gemäß Dublin an andere Länder gestellt. 9000 dieser Ersuchen richteten sich an Italien Rund 5000 Menschen wurden als Dublinfälle tatsächlich abgeschoben. Auch aus Sachsen-Anhalt gehen 1/3 der Dublinabschiebungen nach Italien.

Wenn ich eingangs sagte, 170 000 Menschen kamen 2014 per Boot in Italien an, dann gehört auch eine Zahl dazu, die über das praktische Funktionieren des Dublin-Übereinkommens Auskunft gibt. 170 000 kommen neu an, nur ca. 66000 bleiben in Italien und stellen dort ihren Asylantrag. Völlig unabhängig also davon, wie man die Dublin-Übereinkommen prinzipiell findet und welche Kritik man daran hat oder eben nicht, müssen wir doch also eines feststellen: Dublin funktioniert nicht, Dublin ist gescheitert, Menschen, die die Sahara durchquert haben, die das Mittelmeer überlebt haben, lassen sich von bürokratischen Regelungen nicht abhalten, und ich habe größtes Verständnis dafür.  

Dieses Scheitern ist uns bei unserer Reise deutlich geworden und ich bin dem Innenminister dankbar, dass er das mit seiner Äußerung „Dublin ist nicht haltbar“ öffentlich festgestellt hat.

Der heute hier von uns vorgelegte Antrag spiegelt keineswegs umfassend die Auffassung meiner Fraktion zur Analyse der gegenwärtigen europäischen Asylpolitik und schon gar nicht zu unseren Alternativvorschlägen wieder. Denn natürlich wäre weit mehr notwendig, als das von hier beantragte Eintreten für die Überwindung von Dublin. Folgerichtig und notwendig wäre ein Stopp der Überstellungen nach Italien, genauso wie die Prüfung jedes Einzelfalls. Unser Antrag dazu, dem wir vor fast genau einem Jahr gestellt haben liegt übrigens immer noch im Ausschuss. Notwendig wäre es, die Praxis der sicheren Herkunftsstaaten ebenso zu überwinden, wie Dublin.  Das Recht auf Freizügigkeit für jedermann ist für uns als LINKE ein universelles Grundrecht und wir sind durchaus beim Bürgermeister von Palermo, der – keineswegs ein Linker übrigens, aber ein Humanist und überzeugter Europäer, genau das als neue Grundlage europäischer Zuwanderungspolitik einfordert. Das würde wirklich von einer europäischen Idee zeugen, das wäre ein Entwurf für moderne Migrationspolitik, statt Bleiberecht von wirtschaftlicher Nützlichkeit abhängig zu machen.

Und so schwer es mir fiel, einen Antrag zu stellen, der genau das nicht wiederspiegelt, sondern sich auf das Eintreten für die Überwindung von Dublin beschränkt: Wir halten die Frage der Flüchtlingsaufnahme, der Migrationspolitik und der Wahrnahme humanitärer und auch europäischer Verantwortung für eine drängendsten und grundlegendsten Fragen unserer Zeit und künftiger gesellschaftlicher Entwicklung. Deshalb bin ich froh über jeden Schritt in die richtige Richtung. Die Feststellung, dass Dublin nicht haltbar ist, gehört zweifellos dazu, deshalb mag es vielleicht ungewöhnlich sein, ist aber dennoch sehr ernst gemeint, wenn wir beantragen, der Landtag solle sich diese Auffassung des Innenministers zu eigen machen. Politik ist oftmals das Aushandeln der kleinsten gemeinsamen Nenner. Und im Wissen darum, dass Sie Herr Minister, liebe CDU, und ich die Fragen des „Was nach Dublin?“ unterschiedlich beantworten: Lassen Sie diesen kleinsten gemeinsamen Nenner, wenn wir ihn denn in dieser Frage offensichtlich einmal miteinander gefunden haben, doch einfach zu und setzen Sie sich auf Bundesebene für Ihre Auffassung ein. Es stünde unserem Land nicht nur angesichts der Schlagzeilen, die wir sonst bundesweit machen, überaus gut zu Gesicht.