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Birke Bull-Bischoff zu TOP 17: Ganztägige Betreuungsangebote für Jugendliche über 14 Jahre mit Behinderungen rechtssicher schaffen

Politik ist ein mühsames Geschäft und der Ihnen vorliegende Antrag illustriert das Ganze, wie ich finde, ziemlich unzutreffend. Man kann fast sagen, es ist eine unendliche Geschichte. Es geht um die Betreuung von Kindern mit sogenannter geistiger Behinderung nach der Schule, genauer gesagt, nach dem Unterricht, vor allem dann, wenn ihre Eltern voll berufstätig sind oder sein wollen und wenn die Kinder das Alter von 14 Jahren bereits überschritten haben.

Das Kinderbetreuungsgesetz, das Kinderförderungsgesetz, um genau zu sein, ist nicht mehr zuständig. Das finde ich auch sehr nachvollziehbar; immerhin handelt es sich um über 14-Jährige. Die Schule für sogenannte geistig Behinderte schließt in der Regel spätestens um 15:30 Uhr. Unendlich ist das Ganze, weil Verwaltung und Politik erfahrungsgemäß vor allem im Abwehrmodus unterwegs sind, anstatt in einem Gestus von Unterstützung. Unendlich ist es auch deshalb, weil es nach vielen Jahren immer noch keinen wirklichen Willen gibt, das Problem grundständig zu lösen. Wer sich erinnert fühlt an unzählige bzw. an gefühlt unzählige Debatten, der liegt richtig. In einer, wie ich finde, beispielhaften Aktion von betroffenen Eltern vor einigen Jahren - das muss im Jahr 2011/2012 gewesen sein - haben sich einige Abgeordneten aus allen Fraktionen, Frau Gorr, Frau Dr. Späte, Frau Lüddemann, Herr Bönisch, Frau Hohmann - ich hoffe, ich habe keinen vergessen - gemeinsam gegen das Kultusministerium und das Sozialministerin durchgesetzt, beide zu einer Lösung bewegt, um für die betroffenen Familien eine Lösung zu finden.Ich finde im Übrigen, das war eines der seltenen Male, bei dem wir in gemeinsamer Sache und in gemeinsamem Engagement vereint nicht nur unterwegs waren, sondern einiges geschafft haben. Herzlichen Dank auch an Sie. Ich denke, das war ein Stück weit eine Erfolgsgeschichte.

Trotzdem ist es wie immer: Ende gut, wenig gut. Was war damals das Ergebnis der Debatte? - Zum einen gab es einen Kompromiss bzw. einen vermeintlichen Kompromiss, je nach Perspektive. Es war eine Mehrheitsentscheidung der damaligen Koalition. Diese bestand darin, dass wir den Familien eine Einzelfalllösung aus der sehr großen Palette an Möglichkeiten anbieten. Entweder im Rahmen der Angebote an der Schule für geistig Behinderte; das dürfte der Einzelfall gewesen sein; denn schon damals waren pädagogische Mitarbeiter - auf diese wären wir an der Stelle angewiesen - ein Auslaufmodell. Oder es gab Angebote im Rahmen des SGB XII, was nach wie vor mit nicht unerheblichen Kosten für die betroffenen Familien verbunden war und verbunden ist; an dieser Stelle gilt immer noch das Nachrangigkeitsprinzip. Das Problem war damals und ist es auch heute offensichtlich wieder: Die Eltern brauchen ein unschlagbares Durchhaltevermögen, Nerven, Energie und sind mit Kosten konfrontiert, um sich nicht abspeisen zu lassen und um im Dschungel von rechtlichen Möglichkeiten und Vagheiten durchzufinden und eine Lösung für sich im wahrsten Sinne das des Wortes zu erkämpfen.

Das Problem war und ist: Eltern müssen bezahlen. Deshalb müssen sie sehr oft bezüglich ihrer Berufstätigkeit, ob sich diese noch lohnt, wenn sie zahlen müssten, beispielsweise bei der Inanspruchnahme des familienentlastenden Dienstes, des persönlichen Budgets - darauf komme ich noch zurück -, abwägen. Zum anderen werden die Kinder nicht selten hin- und hergeschoben bzw. hin- und hergefahren. Hinzu kommt - das ist das eigentlich Problem der damaligen Lösung -, dass Einzelfalllösungen, meine Kolleginnen und Kollegen, immer zu einem Ungleichgewicht führen, zu einem Ungleichgewicht zwischen der Behörde und der Bürokratie, die mit Macht, Einfluss und Ressourcen und Entscheidungsbefugnis ausgestattet ist, und denjenigen, die darauf angewiesen sind, also zwischen Schulen und Ämtern auf der einen Seite und betroffenen Eltern auf der anderen Seite. Angesichts leerer Kassen - das sind die vielfältige Erfahrungen bei Ihnen und bei vielen Bürgerinnen und Bürger - und einem extremen Personalmangel ist die Funktion von Verwaltung sehr oft abwimmeln oder aussitzen.

Zum Zweiten. Einzelfalllösungen sind der öffentlichen Kontrolle entzogen, gerade beim SGB XII: zum einen aus Gründen des Datenschutzes, zum anderen schlichtweg, weil sich keine Fraktion eine eigene Abteilung leisten kann, jeden der Einzelfälle tatsächlich zu hinterfragen, zu kontrollieren und weiterzuhelfen.

Drittens. Einzelfalllösungen sind immer prekär, weil sie oftmals aus aus der Not gestrickten Angeboten zusammengesetzt sind. Ich sage es ein bisschen zugespitzt: Wenn es die Schule noch nicht geschafft hat, die Eltern abzuwimmeln - der Schule nehme ich es noch nicht einmal übel, weil dort in der Tat Personalmangel eine ständige Begleiterin ist -, dann schafft es ganz sicher die nächste Instanz, nämlich das Sozialamt, das Jugendamt, das Schulamt, die Landesämter, die Sozialagentur oder das Ministerium bzw. die Ministerien selbst. Der zweite Teil dieses vermeintlichen Kompromisses damals war es, das Schulgesetz zu ändern. Mit der Änderung des Schulgesetzes ist damals der Rechtsanspruch auf einen Hort abgeschafft worden und de facto durch eine, wie ich finde, schwammige und sehr leicht zu umgehende Formulierung ersetzt worden. Darin hieß es dann danach: Förderschulen für geistig Behinderte unterbreiten ein Ganztagsangebot. Auf Formulierungen, wie „müssen“ und „sollen“, welche man gemeinhin dann nutzt, wenn es eine gewisse Stringenz geben soll, ist verzichtet worden. Die einen haben sich das hineingedacht - dafür habe ich ein gewisses menschliches Verständnis -, die anderen haben es sich herausgedacht. Was genau aber Ganztagsangebote sind, wird lediglich mit der Definition von Ganztagsschulen gemessen. Und das geht weit am Problem vorbei, weil sie in aller Regel um 15 Uhr enden; zu dieser Zeit können aber voll berufstätige Eltern noch nicht wieder zu Hause sein.

Schon der Ursprungszustand, über den wir diskutiert haben, bevor wir über das Problem diskutiert haben, hätte diese Definition erfüllt. Es gibt keine zusätzlichen Ressourcen und deshalb gibt es den feinen Unterschied in der Begrifflichkeit zwischen Ganztagsschulen und Ganztagsangeboten. Ganztagsschulen gibt es nämlich bei Förderschulen gar nicht. Ganztagsangebote der Förderschulen sind damit de facto unter Personalvorbehalt gestellt und es kam, wie es kommen musste: Einer Reihe von Eltern ist in ihrer Situation tatsächlich geholfen worden. Das gehört zur Wahrheit dazu. Das ist auch eine gute Entwicklung gewesen, vor allen den Protagonistinnen und Protagonisten, die damals höchst erfinderisch waren, ist geholfen worden. Das ist auch gut und richtig so. Im Regen standen und stehen allerdings nach wie vor eine Reihe von anderen Familien. Es gibt jetzt wieder eine Reihe davon.

Der MDR hat vor einigen Wochen, ich glaube, es waren zwei Wochen, angefangen, darüber zu berichten. Dem MDR ist es eher nicht eigen, über Einzelfälle zu berichten. Aber es ist ebenso: Die nachlassende öffentliche Präsenz des Problems und die Bereitwilligkeit bei der Suche nach einem Problem stehen in einem proportionalen Verhältnis. Beides lässt nach, meine Damen und Herren. Es beginnt wieder und wieder und zumeist erfolglos ein Kreislauf, nämlich das bekannte kraft-, ressourcen- und zeitaufwendige Hin und Her, welche Einzelfalllösung gilt nun, wann, wie lange und warum. Mitunter haben die betroffenen Familien ein bzw. eineinhalb Jahre zuvor diesen Prozess begonnen und sind gescheitert. Wie sahen nun diese Einzelfalllösungen aus? - Das muss man sich einmal reinziehen, um eine gewisse Vorstellung davon zu bekommen. Das damalige Kultusministerium hat sich meist - wie nach meiner Wahrnehmung auch heute - herausgezogen. Deshalb blieb es in aller Regel bei Angeboten der Eingliederungshilfe. Diese werden jetzt im Übrigen auch vom Behindertenbeauftragten der Landesregierung vorgeschlagen. Mich ärgert das - ehrlich gesagt - insbesondere deshalb, weil er wie kein anderer weiß, welche Praktiken in der Sozialagentur gang und gäbe sind und dass die Sozialagentur mit Sicherheit die Erste sein wird, die darauf kommen wird, dass mindestens in einem Einzelfall hier bereits Recht gesprochen worden ist. Ich will einmal eine Begründung aus einem Urteil zitieren: „Hierzu ist festzustellen, dass eine reine Nachmittagsbetreuung zur Sicherstellung der Berufstätigkeit von Angehörigen keine Leistung der Eingliederungshilfe ist.“ Ich denke, es ist eine Frage der Zeit, dass sich die Sozialagentur diese Begründung selbstverständlich zu Eigen machen wird. Im Angebot ist immer wieder der kostenpflichtige familienentlastende Dienst.

Nur einmal eine kurze Rechnung: Wenn ich also als Familie etwa zwei bis drei Stunden pro Tag Bedarf habe, dann bin ich bei einem Stundensatz von etwa 18 Euro - er dürfte mittlerweile gestiegen sein - bei 54 Euro am Tag, bei 266 Euro in der Woche und bei mehr als 1 000 Euro im Monat. Es kommt ein erheblicher Anteil in den Ferien hinzu. Wenn Sie dann noch ein persönliches Budget von etwa 311 Euro im Monat vorgeschlagen bekommen, dann wissen Sie, wer das Ganze bezahlen muss. Im Angebot war beispielsweise auch einmal der Vorschlag, das Kind könnte doch in ein Kinder- und Jugendfreizeitzentrum in der Umgebung gehen. Dort haben prinzipiell alle Kinder Zugang. Selbstverständlich! Aber Kinder mit sogenannter geistiger Behinderung oder meinethalben auch mit einem hohen oder dem höchsten Assistenzbedarf brauchen natürlich eine Betreuungsperson. Diese bezahlt niemand. Ein weiterer Vorschlag im Angebot war die Einrichtung von Fördergruppen vor Ort. Eine solche wird aber nur bei sechs Jugendlichen finanziert bzw. ist rentabel. Einmal ist der Vorschlag gemacht worden, die Arbeitszeit zu verlagern. Diesbezüglich wäre zu fragen: Wohin? - Da fällt mir nur zu Hause ein.

Empfohlen wird meist, einen Integrationshelfer zu beantragen - es war nicht selten, dass dieser im Nachhinein nicht gewährt wurde - oder - das habe ich angedeutet - einen Antrag auf das persönliches Budget zu stellen mit der Konsequenz, dass das persönliche Budget abgelehnt wird, und zwar mit der Begründung, dass das vorrangig zu berücksichtigende Einkommen die Freigrenze übersteigt. Zu Deutsch: Dann müssen es die Eltern selbst bezahlen. Dann können die Eltern auch halbtags arbeiten gehen. Genau das - damit bin ich wieder am Anfang des Problems - war aber nicht Sinn der Sache. Das Ende vom Lied in vielen Fällen ist, dass die Eltern resignieren und die Mütter halbtags arbeiten gehen. Das habe ich im Zusammenhang mit meinem ehrenamtlichen Engagement auch live erlebt.

Im Angebot war im Übrigen auch einmal der Vorschlag einer Behörde: Der Junge wird doch bisher von seinem 70-jährigen Großvater betreut. Wenn er das bisher kann, dann kann er das auch weiter so machen. Ich denke, der Opa ist bestimmt ganz hilfreich und sehr hilfsbereit. Nur ist es doch eine Frage der Zeit, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bis er selbst Hilfe braucht. So in etwa kann man sich einen nervenaufreibenden und nicht selten erfolglosen Prozess vorstellen. Ich weiß von vielen Familien, dass sie einfach klein beigegeben haben, aufgeben und resignieren. Diese Familien werden dann unsichtbar in der Struktur, die damals als Hilfsstruktur erfunden worden ist und die zunächst auch halbwegs funktioniert hat. Jeder kann dann ungestraft sagen, so auch das Bildungsministerium: Es gibt doch keinen Bedarf. Also sind die 130 000 Euro - ich weiß nicht die genaue Summe - im Haushaltsplan des Bildungsministeriums wieder gestrichen worden.

Diese Strategie der Einzelfalllösung ist gescheitert. Ich sage sogar: Sie ist nicht nur gescheitert, sie musste scheitern; denn Einzelfalllösungen tragen dazu bei, dass Betroffene in ihrem Engagement vereinzelt werden. Auch eine Opposition ist nie in der Lage, jeden Einzelfall fortwährend zu prüfen oder ihm hinterherzujagen. Ich will es an dieser Stelle etwas zuspitzen - ich glaube, dass die betroffenen Kolleginnen und Kollegen, die viele Jahre an diesem Problem dran waren, wenigstens ein bisschen menschliches Verständnis für eine Zuspitzung haben, weil auch sie erlebt haben, was das für viele Familien bedeutet -: Diese Lösung sollte scheitern, nicht aus dem Parlament, aber sehr wohl aus dem damaligen Kultusministerium. Ich kann mich an das Gefeilsche und auch an das Falschspiel, das teilweise getrieben wurde, noch sehr lebendig erinnern. Hier ging und geht es nämlich im Grunde genommen um nichts anderes als darum, die extrem schlechte Personalsituation auch - man kann auch sagen: gerade - in den Förderschulen für Kinder mit sogenannter geistiger Behinderung auf dem Rücken der betroffenen Eltern auszusitzen. Um nicht mehr und nicht weniger geht es. Das ist der Punkt.

Nun, finde ich, sollte das Ganze ein Ende finden. Ich finde, wir brauchen eine grundständige Lösung, eine, die wirklich die Eltern in die Lage versetzt, sich auf etwas verlassen zu können, etwas Klares zu haben und sie auch aus der Position der Bittsteller und Einzelkämpfer herauszuholen. Deswegen haben wir Ihnen einen Vorschlag aufgeschrieben. Es ist ein Angebot. Ich will aber auch ausdrücklich sagen, dass ich jede weitere Verbesserung, die für diese Familien im Angebot wäre oder um die wir uns gemeinschaftlich kümmern könnten, für einen Schritt in die richtige Richtung hielte, weil es auch um Lebensqualität geht. Wer von Ihnen des Öfteren mit Familien mit Kindern mit Behinderungen zu tun hat, der weiß, neben all den schönen Dingen, die man ohnehin mit Kindern erleben kann, ist insbesondere ihr Leben von vielen Belastungen, Herausforderungen, Prozessen, Streiten usw. geprägt. Ich finde, an dieser Stelle sollten wir uns starkmachen, ihnen weiter zur Seite zu stehen und zu helfen